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Channel: Natascha Knecht – Outdoor
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Villigerpfeiler – Traumroute oder Schinderei?

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Heute ein Gastbeitrag von Emil Zopfi* mit Bildern von Robert Steiner:

Am Abend vor der Tour finde ich keinen Schlaf. Hans Berger, Bergführer und Hüttenwart der Salbithütte, hat uns am Abend eingeheizt: Der Villigerpfeiler werde nur noch selten geklettert. Die Route sei vor zwanzig Jahren saniert, die Bohrhaken aber nicht durchwegs sinnvoll und sicher gesetzt worden. Der berüchtigte Kamin sei eine Schinderei. Er liebe die Route eigentlich nicht. Im Salbit-Kletterführer, den er vor Jahren mitverfasst hat, klingt es noch anders: «Die Traumkletterei im Salbitgebiet schlechthin. Galt lange Zeit als Markstein für jeden Extremkletterer. Trotz der perfekten Absicherung bleibt diese Tour auch heute noch ein schwieriges und langes Unternehmen.»

Villigerpfeiler am Zwillingsturm des Salbitschijen-Südgrats, Traum meiner Jugend – und jetzt meines Alters. Eine der schwierigsten Kletterrouten der Sechzigerjahre, 1959 erstbegangen von Fritz Villiger und Kurt Grüter. Jahre dauerte es, bis eine Wiederholung gelang, das Gerücht von einem grifflosen Kamin ohne Sicherungsmöglichkeit und einem Stand an Holzkeilen weckte Albträume. Der legendäre Fritz Villiger selber machte uns Mut: «Ihr Jungen schafft das!» Nach zwei Versuchen gelang uns 1967 etwa die zehnte Begehung – ein Jahr zuvor machte der heute stadtbekannte Zürcher Gastronom Fredi Müller die siebte.

Nach dem Sturz kopfüber in der Wand

Der Morgen ist bewölkt, trotz bestem Wetterbericht, kalter Wind treibt Nebelschwaden die Wand hoch. Mein Freund übernimmt die Führung, ich staune, wie schnell und sicher er Friends und Keile legt, wie flink er am Stand das Material übernimmt und gleich weitersteigt. Robert Steiner ist ein Schriftstellerkollege und Extremkletterer mit grosser Erfahrung in Bigwalls und kombinierten Wänden in aller Welt. Neben ihm komme ich mir etwas unbeholfen vor, benutze auch gelegentlich eine Expressschlinge als Griff. Die Risse und Platten sind durchgehend steil und schwer, viel kraftraubende Piaztechnik.

«Wie habt ihr das damals nur geschafft?», fragt mich Robert nach der Schlüsselstelle. Die Erinnerung ist blass, viele Holzkeile, Schlaghaken, zum Teil technische Kletterei mit den damals üblichen kurzen Strickleitern, viel Erfahrung im Rissklettern – und ein genialer Kletterpartner, der den glatten Kamin vorstieg. 1986 kletterte ich die Route nochmals, mit Kletterfinken und modernem Sicherungsmaterial. Unauslöschlich in der Erinnerung, wie ich an der Schlüsselstelle ausrutschte, mit einem Fuss in einer Schlinge hängen blieb und dann kopfüber in der Wand hing. Wie ich anschliessend die Seillänge schaffte, ist mir heute ein Rätsel.

Der Traum erfüllt sich

Höher oben wird der Fels rutschig, feine Sandkörner unter den Sohlen machen uns zu schaffen. Man merkt, dass hier nur noch selten jemand klettert. Auch viele andere grosse Routen am Salbitschijen werden nur noch wenig begangen, am häufigsten noch Süd- und Westgrat. Der schönste Kletterberg im Gotthardgebiet scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein. Solche Routen klettern lernt man nicht in der Halle. «Ohne die Hängebrücke zu den Salbittürmen und ins Voralptal, die viele Wanderer anzieht, hätte ich die Hütte diesen Sommer zugemacht», sagt Hans Berger.

Robert ermutigt mich, die Seillänge am grossen Überhang vorzusteigen, der die markante Verschneidung abschliesst. Die Stelle sieht von weiter unten fast unmöglich aus, gelber Fels, aus der Nähe wirkt sie einigermassen griffig. Ich spreize hoch, turne um die Kante, dann folgen Schuppen, die gut zu klettern wären, wenn nicht alles feucht und rutschig wäre. Als ich den Stand erreiche, beginnt es zu regnen. Die nassen und mit Flechten überzogenen Platten sind uns zu riskant, wir verzichten auf die letzten zwei Längen und seilen ab. Mein Traum hat sich trotzdem erfüllt.

SCHRIFTSTELLER, AUTOR,*Emil Zopfi ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Er ist seit über fünfzig Jahren Bergsteiger und Kletterer. www.zopfi.ch


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