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Channel: Natascha Knecht – Outdoor
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Leiden Alpinisten an Geltungsdrang?

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Zumindest Reinhold Messmer leidet ziemlich sicher darunter: Geltungsdrang scheint unter Alpinisten ein verbreitetes Phänomen. Archivbild: Keystone

Es gab mal eine Zeit, da genossen Grafologen grosse Popularität. Ihre «Lehre von der Handschrift als Ausdruck des Charakters» war von Relevanz. Es sei denn, sie «erfrechten» sich, öffentlich über die Persönlichkeit von Bergsteigern zu schreiben. Das musste der Deutsche Heinrich Steinitzer erfahren. Er publizierte 1907 den Essay «Zur Psychologie des Alpinisten» und wurde in der Folge von diesen kritisiert. Was weiss ein Stubenhocker wie ein Grafologe schon davon, was «in der Seele eines Bergfahrers» vorgeht?

Zum Beispiel schrieb Steinitzer provokativ:

«Es ist zweifellos, dass der Alpinismus so gut wie aufhören würde, wenn es auf irgendeine Weise gelänge, dem Alpinismus jede Möglichkeit zu nehmen, andere von seinen Leistungen zu unterrichten.»

Stimmt das? Leiden Bergsteiger an Geltungsdrang? Falls ja: Hat sich dieser mit den heutigen Kommunikationsmitteln noch verstärkt?

Stellt man solche Fragen den heutigen Profialpinisten, reagieren sie leicht pikiert. Auch wenn ihre Motivation sicher eine hochkomplexe ist, geht es ihnen am Ende darum, tolles Bild- und Filmmaterial nach Hause zu bringen. Dazu erzählen sie eine Gänsehaut verursachende Geschichte, wie sie das Unmögliche möglich machten. Okay, die Profis müssen das, wenn sie davon leben wollen. Aber würde wirklich einer von ihnen eine Hochrisikotour ausführen, wenn er danach die Öffentlichkeit nicht darüber informieren könnte?

Fotos, Filme, Internet

Und wie verhält sich die Sachlage bei uns «habituellen» Bergsteigern? Auch wenn wir unsere grossen Touren nicht an die grosse Glocke hängen, nehmen wir doch in 99 Prozent der Fälle eine Fotokamera mit und halten die Fotos später jedem unter die Nase, der sie sehen will. Im Netz gibt es Plattformen, die genau darauf ausgerichtet sind, damit sich Freizeitalpinisten wichtig fühlen können. Viele Hobbybergsteiger und Kletterer haben eine eigene Website, wo sie stolz ihre Touren auflisten. Auf Youtube gibt es Videos, die mit der Helmkamera gemacht wurden und Alpinisten in allen Lebenslagen zeigen, etwa wie eine Seilschaft am Eiger über den scharfen Mittellegigrat schnauft. Sind solche Selbstdarstellungen ein blosses Heischen nach Anerkennung?

Nervige Neidkultur

Die Frage, weshalb einer überhaupt die Mühseligkeit auf sich nimmt, einen hohen Gipfel zu erklimmen, wird man wohl nie abschliessend klären können. Aber Steinitzers Analyse, dass es auch damit zusammenhängen könnte, um sich damit irgendwie zu profilieren, ist sicher nicht ganz an den Haaren herbeigezogen. Die einen tun es mehr, die anderen weniger.

Aber ist das schlimm? Nein. Der Wunsch nach Anerkennung entspricht nicht einfach der «Psychologie des Alpinisten», sondern der Psychologie des Menschen generell. Dazu reicht schon nur ein flüchtiger Blick ins Facebook. Dort posten Leute ihre Joggingrunden via Runtastic, sie zeigen Bilder, wie sie an einem Strand faulenzen, was sie gerade gekocht oder gebacken oder gar, wie sie gerade den Backofen mit Selbstreinigungsschaum eingesprayt haben – und auch sie kassieren dafür «Likes». Irgendjemand findet sich immer, der irgendeine Leistung gut findet. Und das ist doch schön! Jedenfalls lobenswerter als diese allgegenwärtige Kritisier- und Neidkultur, um von seinem eigenen Unvermögen oder seiner eigenen Trägheit abzulenken.

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