Am 10. Februar 2015 sprang der Russe Valery Rozov als erster Mensch mit Wingsuit und Fallschirm vom Kilimandscharo, dem höchsten Berg Afrikas. Unser Gastautor Thomas Senf* begleitete das russische Team mit der Kamera:
Wie immer war ich für den Funkverkehr mit dem Bodenpersonal kurz vor dem Absprung zuständig. «Noch eine Minute», sagte ich. Das Zeichen, dass alle Kameras laufen müssen und ab jetzt keine weiteren Anweisungen mehr kommen. «Pray to God, nimm das Mikrofon zur Seite», knarzte es aus dem Funkgerät in meiner Jackentasche. Was zum Geier war da unten los? Doch dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit mehr. Jeden Moment wird Valery Rozov in seinem Fledermauskostüm als erster Mensch vom Kilimandscharo springen. Für mich als Fotograf bedeutet das, dass ich etwa eine Sekunde Zeit habe, um das Foto zu machen, für das sie mich für zwei Wochen nach Tansania geschickt hatten. Valery begann sein «Ready, set …». «Einen Moment», kam es in gebrochenem Englisch von rechts. Alex hielt seine Videokamera etwas ungläubig vor sich. «Meine Speicherkarte ist voll», sagte er seelenruhig. Solcherlei Lappalien brachten mich schon lange nicht mehr um den Verstand. Schliesslich war ich ja nicht zum ersten Mal mit den Russen unterwegs.
Dabei hatte es für unsere Verhältnisse gar nicht schlecht begonnen. Also gut, eigentlich wären wir schon ein Jahr früher gegangen, aber dann hatte Valery sich beim Skifahren die Hüfte gebrochen. In der Luft bewegt er sich eindeutig besser als im Schnee. Unser nächster Versuch war an der russischen Wirtschaftskrise gescheitert. Solche kleine Auf und Ab gehören aber zu Russland wie Wodka und Stöckelschuhe.
Träume von Surferinnen im Biwak
Am Abend vor meinem Abflug hatte ich alles so weit gepackt. Noch schnell Kreditkarten, Telefon und Pass eingepackt. Pass – wo zum Teufel war der jetzt wieder? Nachdem das Haus zum dritten Mal auf den Kopf gestellt worden war, fing ich an zu überlegen, ob ich mir den Arm brechen solle, um eine plausible Begründung zu haben, wieso ich nicht kommen konnte. Doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er lag auf der Gemeindeverwaltung. Nach einem Telefonat, einem Dankesgebet, in einer 500-Seelen-Gemeinde zu wohnen, und einer guten Flasche Wein aus meinem Keller war ich bereit für Afrika.
Als Bergfotograf hatte ich schon in unzähligen kalten Biwaknächten von einem Surf-Shooting geträumt. Umgeben von schönen Frauen im Bikini. Nur um dann doch immer wieder neben bärtigen und übel riechenden Jungs aufzuwachen. Umso mehr schien mein Leben eine glückliche Wendung zu nehmen, als wir von der lokalen russischen Agentur in Empfang genommen wurden. Lange blonde Haare auf noch viel längeren Beinen wehten im Wind wie in einer Folge von Russlands «Next Topmodel». Schon bald hatte ich aber mit meinen wenigen Brocken Russisch verstanden, dass wir statt der Blondine einen jungen Ukrainer als Guide dabeihaben würden.
Wodka als Erste Hilfe
Im dritten Camp auf 4700 m teilte sich unser Team. Die eine Hälfte würde am Wandfuss warten, um den Flug und die Landung von unten zu dokumentieren. Wir wollten weiter zum Gipfel steigen und einen möglichen Absprungplatz suchen. Allerdings vermissten wir noch unseren ukrainischen Freund, der nicht zum Frühstück erschienen war. Plötzliche laute Rufe auf Russisch und eine gewisse Hektik liessen nichts Gutes vermuten. Tatsächlich war er über Nacht schwer höhenkrank geworden und jetzt fast nicht mehr ansprechbar. Zum Glück hatten wir aber wie bei fast allen Expeditionen Sergei, unseren Doktor, dabei. Bis jetzt hatte er mich nur mit Wodka verarztet, das dafür umso regelmässiger und mit wissenschaftlich fundierten Begründungen. Eine Erste-Hilfe-Flasche trägt er stets griffbereit in der Jackentasche. Wider Erwarten stellte ich aber fest, dass er tatsächlich noch über andere Medikamente verfügte. Mit einer gewaltigen Spritze und einem schnellen Abtransport ins Tal wurde Schlimmeres verhindert. Dabei hatte ich schon die Schlagzeile vor mir gesehen: «Russen ermorden Ukrainer am Kilimandscharo». Der weitere Aufstieg verlief weitestgehend ereignislos.
Die Wand mit dem Absprungplatz war vom letzten Camp nur über den höchsten Punkt zu erreichen. So bestiegen wir in den folgenden drei Tagen den Gipfel fünfmal. Damit sorgten wir für einige Verwirrung am Gipfelkreuz. Immer wieder stiegen wir über eine schuttbedeckte Flanke zum Gipfel, um auf der anderen Seite des Berges wieder zu verschwinden, ohne auch nur den Kopf zu heben. Zurück blieben ein paar verdutzte Gesichter von Gipfelstürmern, welche sich mit Tränen in den Augen in den Armen lagen und fleissig Selfies schossen.
Pray to God
Und jetzt standen wir also hier am Absprung und wechselten erst einmal die Speicherkarte von Alex’ Videokamera. Damit waren alle Sorgen gelöst, und Valery flog einem Vogel gleich dem tansanischen Dschungel entgegen. Stunden später im Camp am Wandfuss, mit der letzten verbliebenen Erste-Hilfe-Flasche des Doktors, löste sich auch noch der rätselhafte Funkspruch auf. Pray to God war der Name des Trägers, der mit einem Kameramann mit einem riesigen Objektiv weiter unten am Berg unterwegs war. Fasziniert von der Technik und der bevorstehenden Action, hielt er das ganze Material fest umklammert und verhinderte damit die freie Bewegung der Kamera. Ein Totalausfall der alles entscheidenden Aufnahme war damit programmiert. Nur die volle Speicherkarte 1500 Meter weiter oben am Berg sorgte für genug Zeit, um die missliche Situation zu lösen.
Alles in allem ein Trip ohne erwähnenswerte Vorkommnisse mit meinen russischen Freunden.
*Thomas Senf ist Fotograf, Alpinist und diplomierter Bergführer. Mit Freunden gelang ihm u. a. die Erstbegehung der Nordwand am Arwa Tower und der Route Harvest Moon am Thalay Sagar in Indien. Mit der Kamera begleitet er Extremkletterer auf Expeditionen in der ganzen Welt. Er lebt bei Interlaken BE. www.thomassenf.ch