
Der Schweizer Profi-Freerider Jérémie Heitz am Xtreme de Verbier 2014. Der aktuelle Stopp der Freeride World Tour in Fieberbrunn wurde gestern aufgrund der prekären Lawinensituation abgesagt. Foto: Maxime Schmid (Keystone)
Das Wort «Leichtsinn» war schnell hergeholt, nachdem Ende vergangener Woche elf Personen in den Schweizer Alpen den Lawinentod fanden. Doch was bedeutet Leichtsinn? Laut Duden: Mangel an Überlegung und Vorsicht. Und so leid es mir tut: Bevor man vorschnell mit Kritik und Besserwisserei aufwartet, sollte man ebenfalls überlegen und vorsichtig sein. Was wissen wir schon darüber, was sich die verunfallten Skitouren- und Variantenfahrer überlegt haben, bevor sie sich in diese Schneehänge begeben haben? Vielleicht tatsächlich nichts. Vielleicht aber sehr viel.
Zu urteilen und verurteilen ist zwar leicht, aber wem hilft das?
«Dem Unglück anderer sollten wir mit Respekt begegnen, daraus zu lernen versuchen und nicht mit Überheblichkeit reagieren.»
Dieses Zitat stammt von Klaus Hoi, ich habe es aus dem «3x3 Lawinen» von Experte Werner Munter – und ich denke, es trifft den Nagel auf den Kopf. Munter selber sagt auf Anfrage: «Ich kommentiere keinen Unfall, solange ich die Details nicht kenne.»
Paradox und traurig
Vor dem Wochenende gab es in diesem Winter in der Schweiz sieben Lawinenunfälle mit je einem Todesopfer, fünf davon ereigneten sich bei Gefahrenstufe 3 (erheblich). Kein Hahn hat danach gekräht. Offenbar braucht es alle paar Jahre ein Grossereignis – oder eben elf Lawinentote innert drei Tagen –, damit eine Diskussion aufflammt und dem Hintersten und Letzten wieder auffällt, dass das Gebirge kein gesicherter Funpark ist – trotz unserer Superausrüstung.
In den kommenden Tagen und Wochen werden die Leute wahrscheinlich sehr defensiv in den Schneehängen unterwegs sein – oder sich überhaupt nicht mehr ins freie Gelände wagen. Auch das ist nicht zwingend richtig. Es gibt genügend Orte, wo das Risiko vertretbar wäre – auch bei Gefahrenstufe 3. Nur sind diese Hänge halt nicht spektakulär und für manche allenfalls zu langweilig. Nach einer gewissen Zeit ist dann alles wieder beim Alten und man liest wieder von Unfällen mit einem oder zwei Opfern.
Empfindliche Wissenslücken
Man fragt sich: Ist der Skitourengeher, Variantenfahrer und Freerider beschränkt lernfähig? Ich kann versuchen, es an meinem eigenen Beispiel zu erklären. Pro Winter bin ich ungefähr 20 Tage auf Skitour, dazu kommen ein paar Tage Variantenfahren und Eisklettern (wo die Lawinengefahr ebenfalls nicht zu unterschätzen ist). Ich habe Fachliteratur gelesen und einen mehrtägigen Lawinenkurs besucht. Als Journalistin werde ich regelmässig zu «Auffrischungs»-Workshops eingeladen, zum Beispiel als Nachmittagsprogramm bei der Freeride World Tour. Ich kann wahnsinnig kräftig schaufeln, ich kann die Sonde rasch zusammenstecken und damit im Schnee herumstechen. Ich weiss, wie man mit dem Pieps einen Verschütteten sucht. Ich weiss, bei welcher Lawinengefahrenstufe welche Hangneigung und welche Exposition kritisch ist. Ich habe sogar gelernt, mit den Skistöcken die Hangneigung zu messen.
Toll, nicht? Aber kann ich deswegen die Komplexität des freien Geländes einschätzen? Ich bin in den Bergen aufgewachsen, meine erste Skitour unternahm ich in der Jugend – und trotz meiner doch immerhin mehreren Hundert Tagen Erfahrung alleine im Winter bin ich manchmal extrem unsicher. Mein Wissen würde ich maximal als Halbwissen einstufen – mit empfindlichen Wissenslücken. Oft bleibt mir nichts anderes übrig, als meinem Bauchgefühl zu vertrauen. Wenn ich Angst verspüre, tendiere ich zur Umkehr. Auch wenn ich mich damit bei meinen Tourengspänli unbeliebt mache und diese nie mehr mit mir aufbrechen. Auch das habe ich schon erlebt. Ich muss mich hier im Alpinblog von gewissen Lesern gar herablassend belächeln lassen, weil ich zuweilen mit Bergführer unterwegs bin.
Es kann auch mich erwischen
Ich akzeptiere, dass ich keine Expertin bin. Sondern lediglich eine kleine Freizeitalpinistin, die manchmal mehr als staunt. Etwa wenn ich aus dem trockenen und nebligen Zürich ins Gebirge reise und dort nicht nur Sonnenschein erlebe, sondern auf Schneeverhältnisse stosse, die komplett anders sind, als ich sie mir vorgestellt habe – obschon ich die Bulletins und Berichte anderer genau studiert oder mit Freunden telefoniert hatte, die gerade unterwegs sind oder waren.
In einer Lawine zu ersticken, oder über eine Felswand zu stürzen, stelle ich mir grauenhaft vor. Und trotz meiner ausgeprägten Vernunft und Vorsicht bin ich mir bewusst: Es kann auch mich erwischen, vielleicht schon beim nächsten Mal. Ein Restrisiko bleibt immer. Sollte es je so weit kommen, kann man mir meinetwegen auch Leichtsinn vorwerfen. Ob das korrekt ist, überlasse ich den ewigen Besserwissern.